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Tor des Géants 2024

von Sigrid Eder

Ist es Ehrfurcht? Vorfreude? Aufregung? Angst? Nur noch ein paar Minuten bis zum Start. Der Regen prasselt auf meinen Poncho, aber er tut der Stimmung keinen Abbruch. Ich werde lediglich nass. Ich bin in einem Mix aus anfangs genannten Befindlichkeiten, am ehesten aber in einer Form der Dankbarkeit. Ich hätte es eigentlich nicht für möglich gehalten, hier noch einmal am Start zu stehen, nicht nach den letzten Jahren und den vielen Problemen, die sich wieder und wieder aufgetürmt haben. Doch es ist und war genau wie das Höhenprofil des Tor des Géants, ein stetiges auf und ab, immer mit dem Motto, bloß nicht aufzugeben.  

Ob ich im Moment dieser Ausdauerprüfung über 350 Kilometer und etwa 30.000 Höhenmetern gewachsen bin, kann ich nicht beantworten. Ich bin sicher weniger gelaufen als in anderen Jahren, dafür war ich mehr in den Bergen, mehr im alpinen Gelände. Auf so eine Distanz kann man sich ohnehin begrenzt vorbereiten, eher muss man darauf vertrauen, die ganzen letzten Jahre ausreichend Höhenmeter, Kilometer und vor allem Erfahrung gesammelt zu haben. Nächtelang nicht schlafen kann man schon gar nicht trainieren, also gilt es, an sich selbst zu glauben. Ich glaube fest daran, dass es möglich ist. 

12.00 Uhr. Der Startschuss fällt. Gänsehaut pur. So viele Leute, die trotz des strömenden Regens an der Straße stehen und uns begeistert anfeuern. 

Nach wenigen Kilometern wird es leiser, die Straße hört auf, der Trail beginnt. Der erste 1600 Höhenmeter Anstieg steht uns bevor – einer von sehr vielen, sodass ich mich bemühe, mich brav einzureihen und das gemäßigte Tempo mitzugehen. Ich spüre die Nässe überall, doch es geht allen gleich: “Maximal 12 Stunden, dann kannst du dich bei der ersten Life Base umziehen. Bis dahin ist es einfach nur nass.” Selbstgespräche am Weg durch den Schlamm. 2 Schritte vor, einer zurück. Meine Beine fühlen sich gut an, ich bin ganz bei mir, habe die letzten 2 Nächte im Dachzelt gut geschlafen bzw. Schlaf getankt. “Das passt schon.” 

So erreiche ich problemlos den Col d’Arp, ehe es wieder abwärts geht (oder rutscht) Richtung La Thuile bei Kilometer 20, wo es kurz Tee zum Aufwärmen gibt. Die ersten 20 Kilometer mit 1600+ Höhenmetern sind in etwa 3,5 Stunden absolviert. Schon bald folgt der nächste lange Anstieg zum Rifugio Deffeyes (2.489 m) und dem Col Passo Alto auf 2.856 Metern. Der Regen lässt nach, die Berge hüllen sich in grauen Nebel. Es ist rutschig und steil, ich ramme die Stöcke in den Boden und gehe Schritt für Schritt entschlossen bergauf. Am Pass wehen Gebetsfahnen, kurz geben die Wolken das wunderschöne Panorama frei. Ein bisschen Zeit ist noch übrig, bevor es dunkel wird. Die will ich nutzen, denn das Blockgelände bergab ist tückisch nass und bei Tageslicht ein wenig einfacher zu bewältigen. Beim nächsten Biwak (2.273 m) stärke ich mich mit einem kleinen Teller Gemüsesuppe, bereite die Stirnlampe vor und schon geht es in den nächsten Anstieg auf den Col de la Crosatie (2.822 m). Es wird dunkel, der kalte Wind pfeift uns um die Ohren und nimmt mir gefühlt immer wieder die Luft weg. Ich sehe in der Dunkelheit nicht viel, aber links und rechts geht es steil abwärts. Immer konzentriert bleiben! Ich krame die Haube heraus – es ist kalt. Meine Finger werden auch immer kälter. “Handschuhe anziehen. Jetzt! Sonst spürst du deine Hände bald nicht mehr.” Das regennasse Gewand kombiniert mit dem eiskalten Wind lässt mich frieren. Am Pass angekommen, wechsle ich sofort in den Laufschritt, um mich aufzuwärmen. Das Mahnmal dort oben leuchtet für den Japaner Yang Yuan, der auf diesem Pass 2013 tödlich verunglückt ist. Abwärts – aber mit Bedacht! Mir ist trotz Hardshell extrem kalt, aber bekanntlich wird es pro 100 Höhenmeter 1 Grad wärmer. Nachts im technischen, noch immer sehr rutschigen Gelände schnell sein ist keine einfache Aufgabe, aber ich komme gut voran. Mehr als 1.300 Höhenmeter geht es bergab, ehe bei einer kleinen Station ein wenig Tee und ein paar Kekse warten. Cracker, Kekse, Schokolade, ‘Brodo’ (Suppe) – das Standard-Essen beim Tor des Géants. Bis etwa Mitternacht hoffe ich die erste Life Base in Valgrisenche zu erreichen. Noch einige Kilometer auf und ab, dann ist die erste kleine Etappe geschafft. Etwa 55 Kilometer und schon mehr als 4.500 Höhenmeter zeigt meine Uhr dort gegen Mitternacht… 

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Materialtipp Stöcke: Black Diamond Women’s Distance Carbon Z Poles

Wer Tausende Höhenmeter zu absolvieren hat, braucht Stöcke, auf die man sich zu 100% verlassen kann. Die Carbon Z Poles sind unglaublich leicht. Bei meiner benötigten Länge von 120 cm sind das pro Stock 140 g. Der Klapp-Mechanismus funktioniert auf Knopfdruck, auch mit Handschuhen. Die Stöcke selbst sind sehr steif und robust, die Griffe angenehm, die Schlaufen schnell und einfach verstellbar.

UVP: € 160,-

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Etappe 2: Valgrisenche – Cogne

Die erste Life Base in Valgrisenche ist sehr voll, laut und stressig. Lieber wäre es mir, hier sofort weiterziehen zu können, doch ich bin vollständig durchnässt und muss mein komplettes Gewand umziehen. Es ist kein leichtes Unterfangen, das nasse Zeug vom Körper zu bekommen, in einem Müllsack wieder in die Tasche zu verfrachten und gleichzeitig das für die nächste Etappe wieder anzuziehen. Nebenbei versuche ich zu essen – Reis und Kartoffeln. Fast eine Stunde kostest mich das ganze Prozedere. Der italienische Marshall fühlt sich unglaublich wichtig: “Hurry up. There are others coming.” In der Halle mit den Biertischen ist genug Platz. Ich habe hier keinen Helfer und ich muss auch bei der nächsten Station mein Zeug einigermaßen organisiert finden. 

Kurz darauf mache ich mich aber ohnehin auf den Weg. Schlafen ist noch gar kein Thema, dafür bin ich bei dem Lärm bei weitem nicht müde genug. 

Es geht wieder hinaus in die Nacht. Ein sehr, sehr langer Anstieg über 10 Kilometer und 1.300 Höhenmeter zum Col Fenetre wartet. Im Wald dampft es vom Regen, außerhalb weht ein eiskalter Wind, sodass es schwierig ist, sich richtig anzuziehen. Raus aus der Jacke, wieder rein. Davon abgesehen knurrt mein Magen. Die Kombination aus Kälte und permanenter Bewegung kostet eine Menge Energie, zum Essen muss ich mich dennoch zwingen. Haferriegel, Kekse, Cracker, Schokolade, auf dem Weg kommt man  zwischen den großen Stationen ganz gut durch. Es muss ja nicht schmecken, sondern nur Energie liefern. 

Der Col Fenêtre liegt auf 2.843 Metern. Wieder weht auf den letzten 200 Höhenmetern ein eiskalter Wind. Obwohl ich normalerweise auf dieser Höhe keine Probleme habe, kämpfe ich mich hier hoch, als hätte mir jemand die Sauerstoffzufuhr abgeschnitten. Den anderen geht es nicht anders. Vielleicht liegt es auch an der Anstrengung gepaart mit den sehr niedrigen Temperaturen – ganz sicher unter 0. 

Materialtipp Rucksack: Distance 22 Backpack

In mehr als 10 Jahren Trailrunning Szene habe ich keinen vergleichbaren Rucksack gefunden. 22 Liter sind für eine Unternehmung wie den Tor des Géants perfekt. Die Stöcke lassen sich seitlich ganz einfach verstauen, das Rolltop ist unkompliziert und auch mit Handschuhen zu bedienen. Das Netz an der Vorderseite eignet sich für den schnellen Zugriff einer Karte, Jacke, … Vorne sind zahlreiche Netztaschen angebracht, wo u.a. 2 Flasks mit 500 ml Platz finden sowie das Handy, Snacks und mehr.

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Oben angekommen, folgt nun ein sehr fordernder Abschnitt des Rennens. Es ist wirklich brutal steil, teils seilversichert und es sind viele recht unsichere Läufer vor mir. Überholen ist auf dem schmalen Pfad ohnehin unmöglich, aber als mir ein ‘Kollege’ am Seil fast von hinten hinein rutscht, ist es aus mit meiner Geduld. Mit sehr scharfen Worten mahne ich ihn: “When there is a rope, you wait!!” Zum Glück kann ich dann einen nach dem anderen überholen und mein eigenes Tempo laufen, vor allem aber sicherer unterwegs sein. Erst einmal geht es wieder mehr als 1.000 Höhenmeter abwärts nach Rhemes-Notre-Dame, wo eine kleine Verpflegung mit Suppe und Tee wartet. Eine Stärkung hier tut gut, denn im Anschluss wartet der erste Anstieg auf über 3.000 Meter zum Col Entrelor. Davon weiß ich zum jetzigen Zeitpunkt so gut wie gar nichts mehr. Vermutlich habe ich mich nach Kaffee gesehnt und mich mit dem Panorama vertröstet. Der Abstieg ist wunderschön, immer im Blick ist der Gran Paradiso. Nun aber geht es wieder 1.300 Höhenmeter abwärts nach Eaux Rousses. Die Sonne strahlt vom Himmel, es ist warm. Manch einer genießt die erste Runde Schlaf im Gras. Ich möchte weiterkommen Richtung Eaux Rousses. Die letzten Kilometer dort hinunter ist es ausnahmsweise recht einfach und ich habe Zeit, meine Gedanken schweifen zu lassen. Warum wohl immer alle nach dem warum fragen… Kinder machen das nicht. Sie wollen wissen, wie es ist, aber die Tatsache, dass man etwas gerne macht, reicht. 

Mein Rasen zuhause ist nicht gemäht, die Bretter der Baustelle stapeln sich in der Einfahrt, bei mir wächst Unkraut und vermutlich stapelt sich auch die Post. Ich weiß, was die Nachbarn davon halten, die alle einen völlig perfekten Garten um sich haben. Es ist mir ehrlich egal, denn ich lebe – mit allen Sinnen, so intensiv das nur möglich ist. 

Es tut gut, hier in einer Menge Gleichgesinnter unterwegs zu sein. Die Labestation holt mich aus meinen Gedanken zurück in die Realität. Ich brauche etwas zu essen. 3 ältere italienische Männer stehen bei der Pasta. Perfekt gekocht natürlich. Speicher auffüllen tut gut. Während ich esse, beginnt es wieder zu regnen. Die Begeisterung hält sich in Grenzen, aber was soll’s: Hinaus! Auf den nächsten 12 Kilometern warten 1.895 Höhenmeter hinauf zum höchsten Punkt, dem Col Loson auf 3.294 Metern. Das wird ein langer Weg und so manches Gespräch verkürzt die Zeit hier hinauf. Auch die Müdigkeit schlägt zu. Bis jetzt habe ich keine Sekunde geschlafen und mir fallen die Augen zu. Als meine Beine nicht mehr machen, was ich will und ich zu viele Figuren im Wald sehe, setze ich mich einfach auf den Boden und mache die Augen zu. 10 Minuten tiefer Schlaf helfen mir, weiter zu kommen. 

Immer aufwärts! Die letzten 300 Höhenmeter plage ich mich ordentlich, die Luft fühlt sich schon wieder brutal dünn an. Im steilen Blockgelände schrauben wir uns nach oben. Mittlerweile stecken schon mehr als 90 Kilometer und 9.000 Höhenmeter in meinen Beinen und ich freue mich auf die nächste Hütte, dort muss ich unbedingt schlafen. 

Der Abstieg vom Col Loson ist aber erst einmal wunderschön. Die Sonne geht langsam unter und taucht die Berge in ein weiches Licht. Ich laufe locker abwärts und erreiche das lang ersehnte Rifugio Vittoria Sella auf 2.584 Metern. “Dormire?” frage ich. “Si, si.” Man erklärt mir, wo die Betten sind und schon gehe ich aufwärts in das Matratzenlager. Ich reiße mir die ganzen warmen Sachen herunter, lege mich ins Bett und stelle den Wecker. Keiner schnarcht, es ist angenehm ruhig. Doch ich kann nicht schlafen. Es ist ein dösen und ständig wieder aufwachen. “Nicht gut, gar nicht gut…. “, irgendwann kommt das Schlafmonster zu jedem. Was soll’s. Eine Pause war trotzdem gut. Ich ziehe mich wieder an, richte meinen Rucksack, esse etwas, kaufe mir einen Cappuccino (herrlich!) und gehe hinaus in die zweite, dunkle Nacht. Nicht zu viel denken, einfach die Stirnlampe aufdrehen. 

Ein felsiger, langer Abstieg Richtung zweiter Lifebase in Cogne wartet auf mich. Unspektakulär, rutschig, matschig geht es weiter. Mitten in der Nacht komme ich dort an. Etwa 110 Kilometer und ca. 9.500 Höhenmeter sind nun geschafft… 

Cogne – Donnas

Eigentlich will ich mich hier in Cogne nur kurz aufhalten:  Etwas essen, meine Stirnlampe und das Handy aufladen und dann weiter ziehen. Doch während ich versuche, meinen Reis und die gekochten Eier hinunter zu bekommen, fällt mir ein, dass ich durch den Regen Blasen an den Füßen habe. Vielleicht sind hier irgendwo ‘Medics’, die helfen können. Normalerweise  bekommt man in den Life Bases nämlich Hilfe. Doch den Italienern hier zu vermitteln, was ich will, ist nicht so einfach. Kaum einer spricht Englisch. Französisch würde helfen, doch was ‘Blase’ heißt, das gibt mein Vokabular nicht her. Irgendjemand versteht mich dann doch und so gelange ich ins Physio-Zelt. “Si, si… just come, but wash your feet first.” Logisch! Das will ich wirklich niemandem antun, also erstmal Richtung Dusche, dann auf die Liege. Es ist mitten in der Nacht und hier wird mit einer Freundlichkeit geholfen, die ihresgleichen sucht. Während man meine Füße verklebt, kommt ein Italiener mit ernster Miene und sieht sich meinen rechten Fuß an. Darauf sind Spuren eines abgerissenen Tapes zu sehen. Er sieht mich fragend und sehr ernst an. “Torn ligaments last year, I had a problem the last weeks, but it’s all  good. I just put it off.” Die Wahrheit ist ja, dass ich vor ein paar Wochen im Gesäuse umgeknickt bin, mir die Bänder da wohl wieder ziemlich überdehnt oder gezerrt habe und eine Weile überhaupt recht unsicher war, ob das mit dem Laufen schon wieder klappt. Jedenfalls fragt er mich gar nicht weiter, sondern zückt sein Tape und beginnt zu kleben. Die ‘Volontors’, das heißt die Menschen hier, sind schwer zu beschreiben und während ich in meiner Müdigkeit der zweiten Nacht hier liege, bin ich wieder einmal einfach nur dankbar. Da ist es mir auch völlig egal, wie viel Zeit vergeht. Ich bedanke mich bei beiden, gehe dann wieder zu meinen Sachen, versuche noch ein paar Bissen zu essen, packe wieder alles an Ladegeräten und dergleichen in meinen Dropbag, dann geht es gegen Mitternacht weiter. 

Materialtipp: Black Diamond Women’s Light Hybrid Hoody

Wenn in der Nacht am Berg Temperaturen weit unter 0 herrschen und man ohnehin schon extrem müde ist, braucht es einen zuverlässigen Isolations-Layer. Einerseits muss dieser warm sein, leicht und auch schnell trocknen.
Der First Light Hybrid Hoodie hat das beim Tor des Géants sehr zuverlässig erledigt. Einsätze aus Merinowolle sorgen für Wärme, genau wie die teilweise eingesetzte PrimaLoft Gold Isolierung bei Brust, Armen und Kapuze. 100% empfehlenswert.

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Auf dem Weg hinaus treffe ich auf eine Amerikanerin. Vicky ist ihr Name, wir kommen schnell ins Gespräch und so vergehen die nächsten Stunden sehr, sehr schnell. Doch nachdem ich anscheinend die Suppe überhaupt nicht vertrage und etwa im 30-Minuten-Rhythmus ins Gebüsch oder hinter einen Stein muss, verlieren sich in der Kälte der Nacht unsere Wege. Bis etwa 3 Uhr in der Früh läuft es ganz gut, doch dann bin ich in einem Mix aus Kälte und Schläfrigkeit. Wir sind die ganze Zeit steigend an einem Fluss unterwegs, der die Temperaturen weit unter 0 treibt. Ich ziehe alles an – Isolationshose, Regenhose, Isolationsjacke und so weiter. So lässt es sich aushalten. Die Kälte saugt die Energie aus mir wie ein Dementor. Die Müdigkeit habe ich nicht mehr im Griff und das Refugio = Hütte, auf die ich gehofft hatte, um schlafen zu können, hat geschlossen. Das bedeutet: Es gibt ganz einfach keine Möglichkeit, irgendwo zu rasten. Die Nacht muss vergehen, wie auch immer das klappen soll. Der Pass ist hoch oben auf wieder über 2.800 Metern. Wie müde man sein kann, ist schwer zu beschreiben. Halluzinationen sind das eine, aber gar nicht mehr wissen, wie man seine Füße kontrollieren soll, weil man mitten im gehen einschläft, ist bei Wind und Eiseskälte eine kleine Katastrophe. Ich muss aber schlafen. Jetzt. Ein Stein. Sieht doch gemütlich aus. Mit Rückenlehne. Ich lasse mich fallen, gebe mir maximal 5 MInuten (der Wecker ist ausnahmslos gestellt) und schlafe sofort ein. Nicht nötig, einen Wecker zu stellen, denn die darauf folgenden Läufer fragen sofort, ob alles ok ist. “I’m fine. Just tired. So tired.” 

Ich muss es schaffen, hier hinauf zu kommen. Die nächste Hütte werde ich ganz sicher erst bei Tageslicht erreichen. 

Ein paar Minuten schlafen sind aber der Zaubertrick. Ich kann wieder einigermaßen geradeaus schauen, erreiche den Pass und begebe mich in den Abstieg. Was so einfach klingt, ist es nicht. Durch die Feuchtigkeit kombiniert mit den MInusgraden ist das ganze Bachbett ein Eislaufplatz. Jeder Stein ist einfach nur glatt. Das Gute ist, dass man – je mehr Konzentration gefragt ist – nicht so leicht einschläft. Ich weiß nicht mehr genau, wann ich das ‘Rifugio Dondenas’ nach etwa 130 Kilometern und 11.000 Höhenmetern erreiche. Ich weiß nur eines: Ich brauche ein Bett. 

Die erste Bardame weist mich ab. “Dormire? No.” Na so geht das nicht – und wenn ich mich unter die Tische lege, um zu schlafen. Doch die nächste hat mehr Durchblick und zeigt mir den Schlafraum. Es sind genug Betten frei. Regenjacke- und Hose weg. Hinlegen. Schlafen. Mehr weiß ich nicht mehr. 

Als ich nach etwa 75 Minuten aufwache, zittere ich am ganzen Körper. Der Schüttelfrost gehört zu den fiesesten Zuständen während eines solchen Rennens. Mein Körper kühlt immer völlig aus, wenn die Energie am untersten Level ist. Als hätte ich 40 Grad Fieber, versuche ich zitternd in mein Gewand und in die Schuhe zu kommen, bestelle mir an der Bar noch einen Kaffee und hoffe darauf, dass mich die Sonne so weit wärmt, dass ich mich wieder normal bewegen kann. 

Es ist bereits Dienstag Vormittag, ich bin guter Dinge. Bis zur nächsten Lifebase ist es noch ein langer Weg und es soll sehr, sehr heiß werden bei Temperaturen bis zu 35 Grad. 

Ganz einfach ist das für den Kreislauf nicht, aber im Moment ist es mir lieber als die Kälte der Nacht. 

Irgendwann am Nachmittag bin ich am tiefsten Punkt der Strecke auf knapp 322 Metern. 155 Kilometer und mehr als 12.000 Höhenmeter liegen hinter mir. 

Donnas – Gressoney 

“Non volevo morire senza aver capito perché ero vissuto“. (Tiziano Terzani) 

Übersetzt: Ich wollte nicht sterben, ohne zu verstehen, warum ich gelebt hatte. 

Egal, welche Schwierigkeiten hier am Weg auftauchen, egal wie müde ich bin, ich könnte es nicht mehr genießen, mich so zu spüren wie hier – mit dem Wind in meinen Haaren, den aufgerissenen Lippen, den schmerzenden Füßen. Es passt alles zusammen. Ich möchte exakt hier sein, wo ich gerade bin. 

Der kommende Abschnitt ist mit Abstand der Schwierigste. Für die nächsten 50 Kilometer rechne ich mit 24 Stunden, denn es ist nichts als technisch und großteils unlaufbar. Lange Rede, kurzer Sinn: Um das zu schaffen, muss ich mich ‘revitalisieren’: Essen, duschen, schlafen. 

Wie immer gibt es für mich Reis mit Tomatensauce, dazu Joghurt. Das vertrage ich am besten, es schmeckt so einigermaßen und doch plage mich mit dem Teller eine Weile herum. Irgendwie knurrt der Magen zwar pausenlos, aber mein Magen scheint auf die Größe einer Erbse geschrumpft zu sein. Da hat nichts Platz. 

Im allgemeinen fühle ich mich aber ganz gut, ich bin gerne hier – das ist eigentlich das einzig Wichtige. Wenn ich meinen Körper scanne, dann vermute ich, dass meine Ferse bzw. Plantarsehne ordentlich entzunden ist, mein Knöchel ist beleidigt, meine Verdauung macht, was sie will, aber wenn sonst alles passt, dann nehme ich das nicht allzu ernst. Das ist kein Spaziergang und von demher ist man ja darauf eingestellt, dass sich ab einem gewissen Zeitpunkt ein paar Probleme einstellen. 

Die Warteschlange bei den Physios ist mir jedenfalls zu lange. So beschließe ich, duschen und dann schlafen zu gehen. Die Sanitäranlagen hier in Donnas sind grenzwertig dreckig und kaputt; mit den Steh-Toiletten der Italiener werde ich mich vermutlich niemals anfreunden. Nachdem bei den Damen irgendwie alles defekt zu sein scheint, crashe ich die Dusche der Herren, die das weniger amüsant finden. Die Italiener sind schon ein wirklich prüdes Volk. Ich will jetzt duschen. Liebe Italiener, damit müsst ihr leben. Wären wir in einer Sauna, würden wir uns auch gegenseitig sehen. Zufrieden marschiere ich in den Schlafsaal. Ein Feldbett unter vielen, das Motto lautet: Hauptsache horizontal. Ach wie schön ist es, kurz liegen zu können und während ich das denke, bin ich wohl schon eingeschlafen. Man glaubt gar nicht, unter welchen Bedingungen man schlafen kann, wenn die Müdigkeit groß genug ist. Weil es in dem Schlafsaal sehr warm ist, werde ich ausnahmsweise nach gut 70 Minuten ohne Schüttelfrost wach. Ich hoffe, die Pause hier gibt mir genug Energie für die bevorstehende – vermutlich sehr harte – Nacht. 

Mittlerweile kann ich aber nicht mehr leugnen, dass ich müde bin. Genau genommen bin ich  völlig neben der Spur und fühle mich, als wäre ein Lastwagen über mich gefahren. Wenn es doch bloß Kaffee gäbe. Der Löskaffee hier ist untrinkbar, das schimpfen darüber überlasse ich den Italienern, doch am Weg hinaus aus Donnas bin ich auf der Suche nach einer Bar. Die paar Minuten nehme ich mir ganz einfach, der Cappuccino weckt auch wirklich meine Lebensgeister. Am Weg hinaus mache ich noch ein paar alte italienische Mammas glücklich, indem ich einen Becher Wasser von ihnen annehme. 

Die Hitze steht in diesem Talkessel und ich freue mich schon auf den Anstieg. Mein Gesicht hat gefühlt 100 Grad, da geht doch eine Italienerin mit spitzen Lippen in Regenhose und Hardshell an mir vorbei. Mamma mia! 

Bis zum Rifugio Coda, auf den nächsten 24 Kilometern, warten jetzt etwa 2.800 Höhenmeter auf mich und bis zur nächsten Lifebase ganze 6.000. 

Zwischendurch sehr aufheiternd sind die WhatsApp meiner Mutter, die natürlich wisssen möchte, wie es mir geht, obwohl sie es eigentlich nicht wissen will. Im Prinzip möchte sie überhaupt gar nicht wissen, was ich hier mache, es soll mir einfach gut gehen. 

Also geht es mir selbstverständlich gut und auch das Wetter ist immer spitze. “Liebe Mama, alles bestens, mir geht’s gut, die Sonne scheint.” 

Mit meiner Freundin Karin dagegen bin ich ständig im ehrlichen Austausch. Das hilft auch in schweren Momenten und dazu weiß ich, dass ich ab Mittwoch Nachmittag nicht mehr alleine bin, denn dann kommt sie ins Aostatal. Moralische Unterstützung ab Wochenmitte – es könnte doch nicht schöner sein! 

Doch erst einmal geht es aufwärts Richtung Perloz. Dieser Ort ist eines der Highlights des ganzen TORs. Alle Bewohner machen hier eine große Feier aus dem Event und helfen zusammen. Ein Beispiel: Bevor ich zur Verpflegung darf, wird wie immer das Armband gescannt. Hier ist eine etwa 70-jährige Italienerin dafür zuständig und so recht will das nicht klappen mit dem Handy und dieser dummen App. Sie blickt zu ihrer jüngeren Kollegin und hofft, das Prozedere umgehen zu können. Aber keine Gnade… alle müssen im System sein. Letztendlich schaffen sie es doch gemeinsam und sie strahlt. An der Labe gibt es sogar Pizza, Live Musik und wer möchte, kann auch einen kleinen Vino Rosso trinken. Alle haben so eine Freude, dass es schwer ist, nicht emotional zu werden. Ich bin grundsätzlich nicht so nahe am Wasser gebaut, aber nach mehr als 50 Stunden auf den Beinen, bei Tag und Nacht, kann es einem sehr nahe gehen, wenn ein Mensch herzlicher als der andere ist.  Zudem bin ich jetzt wirklich im Rennen angekommen. Währen die ersten 1, 2 Tage im Kopf der Alltag immer noch mit dabei ist, verliert sich dieser irgendwann und man ist nur noch im Hier und Jetzt. Das ist ein unglaublich schönes Gefühl. 

Mit viel Energie laufe ich hinaus, der Schlaf in Donnas hat mich ordentlich gepusht. “How are you doing?” werde ich gefragt. “I’m feeling awesome!” Ich bin unterwegs, als hätte ich nicht 15.000, sondern erst 100 Höhenmeter in den Beinen; wohlwissend, dass dieser Zustand von einer Sekunde auf die andere vorbei sein kann. Und so kommt es eine halbe Stunde später wirklich. Es gibt bergauf nur Stufen. Nichts als Stufen. Teilweise so hoch, dass Kinder ihre Hände benötigen würden, um hier hoch zu kommen. Das kostet eine Menge Kraft und mit meiner Wachheit geht es rasant bergab. Buongiorno? Da liegt jemand im Gras. Ich schlafe sowieso im gehen ein, also genehmige ich mir ebenfalls ein paar Minuten. Einfach umfallen und schlafen. Natürlich nicht länger als 10 Minuten, denn auch in der dritten Nacht ist es wieder eiskalt. Je höher wir steigen, desto teschnischer wird es. Blockgelände, Seile, ständig auf und ab. Jeder mühevoll gewonnene Höhenmeter wird wieder bergab gestiegen und dann doch wieder bergauf. Wo zum Teufel ist dieses Refugio? Es wird immer stürmischer und kälter… mitten in der Nacht erreiche ich es endlich. Es sind aber leider nur zwei Zelte im Außenbereich aufgestellt, das ist nicht sonderlich warm. Ich esse zumindest einen Teller Pasta, doch schlafen ist hier nicht möglich. Nur am Tisch. Ich wäre jetzt gerne einer der Japaner, die hier herum liegen, denn diese haben die Art von Power Nap perfektioniert wie sonst niemand. Es kann aber nicht verboten sein, in die Hütte zu gehen, also mache ich das und sehe mich um. Da ist ja eine freie Holzbank, etwa 30 cm breit. Für mich sieht das mehr als einladend und gemütlich aus. Ohne zu fragen, lege ich mich hin und schlafe für 30 Minuten völlig erledigt ein. 

Danach bin ich ziemlich verwirrt. Eigentlich laufe ich in den richtigen Weg. Ein anderer Läufer vom Tor des Glacier (450 km Distanz) erklärt mir aber, ich wäre falsch. Also laufe ich bergauf doch wieder alles retour um dann zu erfahren, dass alles gepasst hätte. In dieser speziellen Müdigkeit funktioniert das Gehirn nicht mehr besonders gut. Meine Uhr hatte nämlich auch angezeigt, dass ich richtig bin, aber ich habe es nicht geglaubt. Immerhin ist mir jetzt warm. 

Meine Verdauung macht mir immer noch ziemlich zu schaffen. Mitten in der Nacht ständig ein Plätzchen suchen zu müssen, in dieser Kälte, ist ziemlich lästig. Der Schlaf holt mich auch mehr und mehr ein. Ingwer, Schokolade, gar nichts hilft mehr. Bis zum nächsten Rifugio sind es theoretisch nur 8 Kilometer, kombiniert mit 700 Höhenmetern. Doch kein einziger Meter ist laufbar. Es folgt ein Stein nach dem anderen. Nur nicht irgendwo daneben tapsen, es steil abwärts. Seilversicherte Stellen wechseln mit rutschigen Felsen. Meine Augen sind unglaublich schwer. Es fällt mir schwer, zu fokussieren. Meine Augen sind wie ein Röhren-Fernseher, der den Sender nicht findet. Das Bild flimmert, ist verzerrt, alles driftet auseinander. Kann ich irgendwo schlafen? Nein. Es ist zu kalt, zu teschnisch, zu schmal. Ein Japaner vor mir hilft mir zum Glück eine Weile, nicht einzuschlafen. Er hat, umgangssprachlich gesagt, überhaupt ‘keinen Genierer’. Er hustet, hustet stärker, würgt und gibt Töne von sich, die eigentlich schwer auszuhalten sind. Grausam, doch es hält mich wach. Zumindest eine Weile. 

Die Hütte sollte laut meiner Uhr greifbar nah sein. Nur noch 100 Höhenmeter. Manch einer schafft auch das nicht mehr und wechselt in den Biwaksack. Ich – muss – aber – irgendwie – da – hinauf. Nur – nicht – einschlafen. Komm schon. Die Steine lächeln mich an. Die Wurzeln sind eigentlich lustige Waldgeister. Hinter den Bäumen lugen Gestalten hervor. Alle sind sie freundlich. Mein Körper versucht mit allen Mitteln, zu Schlaf zu kommen. Immer wieder driften meine Augen ab, meine Füße wanken von Fels zu Fels. 

Das Schöne an diesem Zustand ist, dass man alles Unwichtige ausblendet. Manchmal versuche ich ab dieser Phase des Rennens, an irgendwelche Dinge aus dem Alltag zu denken, doch das funktioniert gar nicht mehr. Ich denke eigentlich nur daran, dass ich am nächsten Tag meine Freundin sehe und dann umarmen darf.

So wanke ich hin und her. “Sleepwalking”, nennt man das unter uns Läufern. Nach einer Ewigkeit und allem Widerstand, den ich gegen den Schlaf aufbringen kann, erreiche ich die Hütte. 180 Kilometer, 15.500 Höhenmeter und mir wird eine Schüssel Polenta gebracht. Grazie! Während des Essens vergesse ich, dass ich esse und frage nach einem Schlafplatz. Was für ein Glück – ein Bett ist frei. Maximal 2 Stunden darf man in den Hütten schlafen. Ich beschließe, dass 90 Minuten reichen sollten. Ich schlafe in Sekundenschnelle ein. Was für ein Segen! 

Wieder genehmige ich mir vor der ‘Abreise’ einen Cappuccino. Das Gelände wird nicht einfacher und der Schlaf, kombiniert mit etwas Koffein, gibt mir Sicherheit für den weiteren Weg. Es ist Vormittag, die Sonne scheint und die Luft riecht nach Schnee. 

Im Gegensatz zur Nacht komme ich ganz gut voran, bei Tageslicht ist alles einfacher. Eine Japanerin schreckt mich, als sie vor Freude wegen einer Heidelbeere jauchzt. Strahlend zeigt sie mir ihren Fund. Das sind die kleinen Freuden des Läuferlebens… 

Auf und ab und auf und ab, bis wir ein kleines Biwak erreichen. Dort stärke ich mich wieder mit Polenta, ehe der lange Abstieg Richtung Niel wartet – selbstverstänlich niemals ohne Gegenanstiege, felsig und technisch. Eine Forststraße? Ach wie langweilig das doch wäre. 

Um halb 4 am Nachmittag (Mittwoch) komme ich endlich bei der Zwischenstation in Niel an und tatsächlich ist Karin dort. Nach so langer Zeit jemanden in die Arme nehmen können – es ginge nicht schöner. 

Ich bin sehr glücklich. Wir trinken gemeinsam einen Kaffee, ehe ich in den nächsten Anstieg starte. Noch einmal 1.000 Höhenmeter, bevor ich bei der nächsten Life Base in Gressoney bin. Noch einmal unglaublich technische Passagen, etliche Felsen und meterhohe Stufen bergab, die einem die Nerven rauben, wenn man einfach nur laufen möchte.

Es ist bereits wieder finster, als ich Gressoney erreiche. Doch wie heißt es so schön: Wer einmal in Gressoney ist, hat das Härteste bereits geschafft. Ich bin erleichtert. Auf mich warten meine Freundin, Essen, eine Dusche, ein Schluck Bier und definitiv ein (Feld)Bett.

Status Quo: 210 Kilometer, knappe 18.000 Höhenmeter.

Gressoney – Champoluc

Liebe Sigrid, für welchen Schlafsaal entscheidest du dich? Schlafsaal 1: voll und stinkig, vermutlich läutet hier alle paar Minuten ein Wecker. Schlafsaal 2: halb leer, dafür mit einer Schnarchnase sondergleichen. 

Ich hoffe, dass meine Ohrstöpsel das schlimmste unterdrücken und wähle Variante 2. 

Eine Italienerin meint doch wirklich, ich solle den schnarchenden Kumpanen von ihr wegschieben. Dafür bin ich fix nicht zuständig; ich deute ihr, dass ich mich nun hinlege und schlafe. Schließlich bin ich kein Anti-Schnarch-Service. 

Der Typ ist wirklich laut. So stelle ich mir vor, ich wäre mit meiner Mutter auf einem Kurztrip, im gleichen Schlafzimmer und sie schnarcht sehr laut. Sorry Mama – die mentale Taktik funktioniert ‘leider’ bestens. 

Die größte Angst beim Schlafen ist immer, nicht mehr aufzuwachen. Deshalb bitte ich jedes Mal meine Freundin Karin, sie solle mich um Zeitpunkt X anrufen, sollte ich den Wecker davor nicht gehört und ich mich nicht vorher schon gemeldet haben. Das ist abernicht nötig, denn in der Regel weckt mich nach spätestens 45 Minuten zum ersten Mal der Schüttelfrost. Die beiden Decken und auch meine Isolationsjacke reichen nicht. Zähne können wirklich klappern. 

Dafür muss ich jetzt nicht alleine meine Tasche packen, die Geräte holen, Ladekabel verstauen und so weiter. Mit Hilfe geht es leichter. Gegen Mitternacht geht es wieder hinaus in die dunkle Nacht. 

Auch wenn es von außen schwer nachvollziehbar zu sein mag: Man lernt auf so einem Weg unglaublich viel. Vor allem, dass man alles, das außerhalb ist, nicht beeinflussen kann. Wenn es regnet, kann ich mich ärgern. Besser ist es, ich freue mich, eine gute Regenjacke zu haben. Wenn es eiskalt ist, kann ich mich ebenfalls ärgern. Besser ist es, ich freue mich, eine gute Isolationsjacke, Handschuhe und eine Mütze im Rucksack zu haben. 

Wenn mich ein anderer Läufer nervt, weil er mich nicht überholen lässt, dann kann ich nur versuchen, die Situation so schnell wie möglich zu ändern und nach vorne zu schauen.

Die Liste kann man ewig so fortführen. Ich kann immer nur mein Denken und Verhalten beeinflussen. Alles andere liegt nicht in meiner Macht. 

Hier in den Bergen merkt man, wie klein man eigentlich ist. Ein winziger Punkt auf dieser Erde, der sich vor allem dem Wetter und äußeren Einflüssen manchmal beugen muss – zumindest dann, wenn man das Risiko in Grenzen halten will. 

Dieses Dasein, Tag und Nacht, dieses Spüren der Natur ist mein ‘Safe Place’. Ich liebe es. 

Doch die letzte Nacht erreicht meine Müdigkeit neue Dimensionen, die Kälte ebenso. Wie ich später erfahre, hat es etwa -10 Grad. Ein Franzose will mir doch wirklich erklären, ich sei zu warm angezogen.  Zweimal muss ich mich in der ärgsten Kälte hinsetzen, um ein paar Minuten die Augen zu schließen, wenn ich nicht irgendwo hinunter stolpern will. Andere Optionen als drei- bis vierminütige Power Naps habe ich nicht, wenn ich mich ganz einfach nicht mehr wach halten kann. Ich kann zwar nicht mehr scharf sehen, doch sehr klar denken. Dieser Zustand, bei dieser Kälte, ist für mich schwer tragbar. Müdigkeit ist normal, die extreme Kälte setzt allen zu, doch habe ich die Situation jetzt wirklich noch im Griff? Fakt ist, dass ich mir hier auf über 2.800 Metern nicht den kleinsten Fehler erlauben darf. In der nächsten Nacht soll es noch kälter werden – Schnee, Eis und bis zu minus 20 Grad stehen uns bevor. Nachdem ich zum Glück über den Berg, bzw. über den Pass bin, sagt mir mein Gefühl schon ganz genau, was die Konsequenz im nächsten Ort sein wird. Doch erst einmal folgen 1.500 Höhenmeter Abstieg – felsig und steil, was sonst? Ich fühle mich gut, kann immer noch bergab laufen, abwärts ist auch die Müdigkeit kein großes Problem, trotzdem sagt mir meine innere Stimme, dass diesmal nicht der richtige Zeitpunkt ist, um ans äußerste Limit zu gehen. Zu sehr kämpfe ich jetzt schon mit der Kälte. Noch einmal 10 Grad weniger, kombiniert mit Sturm, scheint mir nicht mehr sinnvoll zu sein. Ich habe meiner Familie immer versprochen, dass ich niemals ein zu großes Risiko eingehen werde. 

In Champoluc wartet Karin mit dem Dachzelt. Ich denke gar nicht mehr nach, sondern klettere hinein. Das ist verboten, spielt für mich jetzt aber keine Rolle. Alles, was ich will, ist etwas Ruhe, Wärme und mein Schlafsack. Eigentlich ist mir unendlich heiß, obwohl ich anscheinend eiskalt bin. Unterkühlung? Möglich. Es ist egal, ich schlafe ein, umarmt von meinem Lieblingsmensch und auch von einem unglaublich guten Gefühl. 2, 3 Stunden später beratschlagen wir uns und ich beschließe, zum Checkpoint zu gehen und meine Startnummer abzugeben. 

Dabei bereue ich gar nichts. Es fühlt sich nicht wie ein ‘Did not finish’ an, sondern wie ein Finish zum richtigen Zeitpunkt. Nach 240 Kilometern und knapp 20.000 Höhenmetern. 

Es geht mir gut, ich weiß, dass wieder alles möglich ist und ich habe gelernt, dass mir mein Leben und alle künftigen Abenteuer, die noch kommen werden, so viel mehr wert sind als diese eine Finisher Medaille. 

TOR, ich komme wieder. 

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