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Großglockner Ultratrail – Vom Mut, trotz Startnummer nicht zu starten

von Sigrid Eder

Beitragsbild: Sportograf

28. Juli 2022
Dieser Tag war seit dem Vorjahr sowohl in meinem Kopf als auch im Kalender sehr präsent. Dreimal war ich beim Großglockner Ultratrail bereits am Start und dreimal im Ziel. Drei mal 110 Kilometer mit Höhen und Tiefen und ganz unterschiedlichen Geschichten, die nur ein Ultrarennen schreibt. Von Freundschaft, vom Durchhalten, nicht Aufgeben, von Angst, Freude und so viel mehr.

Link zum Bericht 2019: 110 Kilometer näher zu mir selbst
Link zum Bericht 2017: Gib niemals auf


Wenngleich ich weiß, dass jeder Tag anders ist und man solche speziellen Tage nicht planen kann, so war es doch mein großes, erklärtes Ziel, „den Glockner’ einmal unter 20 Stunden zu schaffen. In der Vorbereitung hatte ich mit einigen gesundheitlichen Problemchen zu kämpfen. Mit den Nachwirkungen einer Luftröhren- und Kehlkopfentzündung habe ich bei Temperaturen unter 20 Grad meine Trainings am Laufband absolviert – weil ich wirklich absolut gewillt war, gut in Form zu sein. Ich war fest entschlossen, die Wochen vor dem Rennen waren großartig und ließen mein Selbstvertrauen von Tag zu Tag wachsen. Auf meinen ‚Hausrunden‘ konnte ich mit Leichtigkeit sehr gute Zeiten laufen; die Zuversicht war groß. Nach vielen Jahren im Ausdauersport kann man in der Regel sehr gut abschätzen, ob man für ein Rennen bereit ist oder nicht. Man spürt es. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich war bereit. Definitiv.

Wie wird das Wetter?

Die letzten Tage vor einem Rennen ist man in der Regel recht häufig damit beschäftigt, den Wetterbericht zu studieren. Ende Juli ist das Wetter meistens sehr instabil und so war es auch dieses Mal: Regen und Gewitter waren angesagt. Egal welche Seite ich aufrief, ob Bergfex, Meteoblue, ZAMG, …, es blieb instabil und schwer vorhersehbar.
Fragt man sich nun, ob man sich als Läufer nicht einfach auf den Veranstalter verlassen sollte, so würde ich das ganz klar verneinen. Das bedeutet nicht, dass ich diesem kein Vertrauen schenke. Ganz im Gegenteil. Hubert Resch kenne ich nun schon viele Jahre und ich bin mir 100% sicher, dass es sein größtes Bestreben ist, dass alle Läufer sicher ins Ziel zurück kommen und einen genialen Tag am Berg und in unglaublicher Landschaft erleben. Dennoch: Es ist ein Rennen. Es ist ein Berg. Man trägt eine Startnummer. Mit Startnummer handelt man nicht immer vernünftig.

Tag X

Bereits beim Frühstück habe ich nicht das gleiche Gefühl wie sonst. Im Normalfall fühle ich mich ab einem gewissen Zeitpunkt, speziell wenn ich vor Ort bin, sehr sicher. Heute nicht. Das Wetter beunruhigt mich. Mit meiner Stimmung und meiner Unsicherheit beunruhige ich mich vor allem selbst. Ich versuche ruhig zu bleiben, hole die Startnummer ab. The last step. Danach fühle ich mich bestimmt besser und voller Vorfreude. Doch als ich das Starter-Armband bei der Ausrüstungskontrolle bekomme, fühlt sich erst recht alles falsch an. Das ist einfach nicht das Gefühl, das ich in mir tragen sollte; das Gefühl, das mir Sicherheit gibt.
Noch einmal ein Blick auf den Wetterbericht. Nichts ändert sich. Vielleicht ziehen die Gewitter schon vor dem Start vorbei, regnen wird es aber sicher. Außerdem wird es kalt. Nachdem ich die Strecke gut kenne, weiß ich, was auf mich zukommt. Vielleicht ist das ein Nachteil – für Blauäugigkeit war ich zu oft mit dabei, nicht nur beim GGUT. Ich kann nicht anders, als mir vorzustellen, bei Wind und Regen von den Stauseen in der Kälte und Dunkelheit der Nacht zum Kapruner Törl aufzusteigen und auf über 2.600 Metern am Limit zu sein und zu frieren. Will ich das wirklich? Wie sicher kann ich mir sein, dass in der Nacht kein Gewitter aufzieht?

Es geht um mich

Es geht – ich wiederhole mich – nicht um das Vertrauen in den Veranstalter. Es geht um mich. Das Abwägen vom Nutzen dieses Unterfangens und dem Risiko. Zuhause wartet meine Familie auf mich, meine 4 Kinder, meine Freundin, ihre Kinder.

Was will ich heute Nacht sein? Ein Vorbild, weil ich 110 Kilometer laufen kann oder ein Vorbild, weil ich nein sagen kann?

Diese Frage habe ich mir noch nie gestellt

Eigentlich habe ich mir die Antwort längst gegeben und doch fällt mir die Entscheidung sehr, sehr schwer. Ich nehme zu Mittag mein Taschenmesser und schneide das Armband durch. Heute nicht. Ich könnte, aber ich muss nicht mehr. Die Schutzengel, die mir bei Ultraläufen schon oft zur Seite gestanden sind – davon bin ich überzeugt – sollen heute jemand anderem helfen.

Zu viel Risiko?

Ein paar Tage später werde ich gefragt, ob ich denn wirklich der Meinung bin, dass es generell zu gefährlich war. Die Antwort darauf ist für mich nach wie vor schwer mit ja oder nein zu beantworten. Für mich war es zu gefährlich. Für mich persönlich. Ich war nicht bereit. An der Stelle kann ich nach etlichen Gründen suchen und diese auch finden: Viel Arbeit im Vorfeld, Stress, belastende Gedanken, Kinder, Hausbau – ja, es gibt etliche Gründe. Es spielt aber überhaupt keine Rolle.
Man muss bei so einem Unterfangen wie einem Ultralauf in technisch anspruchsvollem Gelände ganz bei der Sache und ganz bei sich selbst sein. Manchmal passt alles wunderbar zusammen, manchmal aber nicht. Ich habe schon sehr oft den Mut für sehr lange Rennen aufgebracht, ich bin immer wieder über meine Grenzen gegangen und habe dabei unvergessliche, wunderschöne und auch harte Erfahrungen gemacht, von der ich keine einzige missen möchte. Allerdings musste ich noch nie den Mut aufbringen, vor einem Start nein zu sagen.
Nein sagen bedeutet an diesem Tag, keine Bestzeit aufstellen zu können, die Form weder zeigen noch nutzen zu können und am Berg an diesem Tag nichts Großartiges zu erleben. Nein sagen bedeutet an diesem Tag aber auch, dass ich persönlich gewachsen bin und darauf bin ich stolz. Es geht nicht mehr darum, etwas mit Härte zu erreichen. Ich bin um eine Erfahrung reicher. Ich darf fühlen, nein sagen und darauf vertrauen, dass es Tage gibt, an denen etwas nicht stimmig ist, das seine Gründe hat und man dieses Gefühl annehmen, akzeptieren und respektieren darf. Nicht nur bei einem Rennen, sondern im ganzen Leben.

Danke

An dieser Stelle möchte ich mich bei Dynaft für die Einladung zum Rennen bedenken sowie bei dem Veranstalter Hubert und seinem Team. Ich war nicht umsonst so oft mit dabei und ich werde es ganz sicher wieder sein, weil ich dieses Rennen um den höchsten Berg Österreichs wahnsinnig gerne mag und sehr dankbar bin, dass es die Möglichkeit gibt, Abenteuer in einem möglichst sicheren Rahmen zu erleben. Ich freue mich schon jetzt darauf, wenn beim nächsten Mal das Gefühl ja sagt und ich mit Stärke diese legendären 110 Kilometer und 6.500 Höhenmeter bewältigen kann.

Links

www.ultratrail.at

www.sigridhuber.at

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