Es muss wie ein Vollrausch sein. Ich hatte nie einen, aber ich stelle es mir so vor. Völlig weggebeamt. Völlig im hier und jetzt. An nichts anderes denken. Nur die simplen Dinge. Essen, trinken, laufen, gehen. Einen Tag lang nichts müssen, sondern einfach nur sein. Eine Ziellinie, die nicht käuflich ist. Nur wer hart gearbeitet hat, wer motiviert ist und den Willen hat, jedes noch so tiefe Tal zu durchschreiten, kommt an. Für mich ist jeder Ultratrail eine Metapher für das ganze Leben, bei dem ich wieder dazu lerne, mich selbst wieder ein Stück besser kennen lerne.
Großglockner Ultratrail: 110 Kilometer. 6.500 Höhenmeter.
Regen, der vom Himmel prasselt. Ein Meer an Stirnlampen. Leuchtende Kuhaugen. Colaflaschen im Brunnen. Rote Ampeln. Kabumm, der Startschuss.
Es sind unzählige Gedanken, die mir in den Tagen nach dem Großglockner Ultratrail durch den Kopf geistern. Körperliche Erholung ist die eine Sache, aber so einen Tag im Kopf verarbeiten dauert meistens länger.
Freitag Abend. Noch 3 Stunden bis zum Start
Kartoffelpüree, Avocado, ein Stück Brot. Die Standard-Mahlzeit vor einem langen Rennen.
Der Rucksack ist gepackt, die Flaschen sind gefüllt, der Akku der Stirnlampe ist voll geladen. Ich habe keine Lust mehr zu warten. Ich warte schon seit Monaten auf diesen Tag. Training – bei jedem Wetter, egal wie müde, egal ob motiviert oder nicht. 110 Kilometer. 6.500 Höhenmeter. Das sind Zahlen, die viele in meiner Familie nur den Kopf schütteln lassen und die Frage nach dem Warum stellen. Diese Frage stellt sich mir nicht, denn ich bin fest entschlossen. Aber eins ist sicher: Der Großglockner Ultratrail duldet es nicht, schlecht vorbereitet am Start zu stehen. Wer hier halbherzig dabei ist, wird abgeworfen.
Nun ist es 21 Uhr. Noch 1 Stunde. Mit meinem großen Sack, oder eben Dropbag, wandere ich durch die Straßen Kapruns. Während die Araber und andere Urlauber hier einen lauen Sommerabend in den Lokalen genießen, sich einen Schluck Wein genehmigen, nuckle ich an meinen Flasks, die aus dem Rucksack herausschauen. Tunnelblick. Ich bin konzentriert, fokussiert, aber auch müde. Letzteres wird das Adrenalin vor dem Startschuss schon richten.
21.30 Uhr. Dropbag abgeben. Davor nochmal alles kontrollieren. Habe ich sicher nichts vergessen? Regenjacke, Ersatz-Stirnlampe, Verpflegung. Es ist alles dabei.
Ein letzter Stopp am WC. Die Musik in Nähe des Starts ist laut. Zu laut. Ich mag es vor einem Start lieber ruhig, gehe gerne noch einmal in mich und sage mir, dass ich gut vorbereitet bin, spreche mir selbst Mut zu und erinnere mich daran, dass in den nächsten Stunden negative Gedanken nicht erlaubt sind.
21:45 Uhr. Briefing. Alle warten auf die Wetterprognose. Kein Regen in der Nacht, aber die Gewittergefahr am nächsten Tag ist hoch. Mit Rennunterbrechnungen oder gar einem Abbruch ist zu rechnen. Das war klar. Ich weiß, dass ich mir heute Nacht nicht Zeit lassen darf, denn je später es wird, umso höher die Gefahr.
21:55 Uhr. Auf in die Startbox. Die Nummern 1 bis 100 sollen sich vorne einreihen. Bisher habe ich mir nur gedacht: Nummer 55 – gefällt mir. Insgesamt sind ca. 450 Läufer am Start. Warum ich hier vorne stehe, weiß ich nicht. Vielleicht, weil ich den GGUT schon zweimal gefinished habe. Das Rennen lässt mir aber noch keine Ruhe, deshalb bin ich ein drittes Mal hier.
Der Moderator schreit ins Mikrofon: Clap your hands!
22:00 Uhr. Puff. Startschuss. Endlich. Hinaus aus Kaprun. Die ersten Kilometer sind recht flach, es steigt nur langsam an. Es wird wie immer gelaufen, als wären wir nach 10 Kilometern im Ziel. Ich lasse mich nicht beirren und laufe genau mein Tempo. Alles ist gut.
Etappe 1: Bis zur Mautstelle
Bis nach Fusch sind es ca. 12 Kilometer. Es geht steil bergauf durch den Wald. Ein langer Zug an Stirnlampen wandert durch die Nacht. Es wird kaum gesprochen, vermutlich ist sich jeder der noch langen Aufgabe an diesem Tag bewusst. So manch einer rast vorbei, die meisten aber sind unterwegs wie in einer Gruppenmeditation. Ein Schritt nach dem anderen. In Fusch wartet die erste Labe. Sicherheitshalber fülle ich am Brunnen meine Flasche auf. In den ersten Stunden eines Ultratrails gibt es nicht viel zu tun außer darauf zu achten, sich nicht gleich abzuschießen und vor allem gleich von Beginn an genug zu trinken und zu essen.
Die Zeit vergeht, irgendwo hört man eine Kirchturmuhr Mitternacht schlagen. Geisterstunde am Großglockner… Meine Gedanken sind schräg und ich bin müde. Und dann beginnt es zu tropfen. Ach, so ein paar Regentropfen, das ist angenehm. Dabei bleibt es nicht, es wird mehr und mehr und mehr. Ich blicke um mich, keiner scheint Lust zu haben, die Regenjacke auszupacken. Habe ich auch nicht, mache es aber trotzdem. Jetzt gleich durchnässt und ausgekühlt sein, wenn es dann bis auf 2.663 Meter hinaufgeht – das wäre eine ganz dumme Idee. Der leichte Regen wird letztendlich zum Wolkenbruch wird. Es schüttet. Mir ist kalt. “Das geht sicher bald wieder vorbei”, versuche ich mir einzureden. Kilometer um Kilometer vergeht und es regnet lustig weiter. Bei Kilometer 23 ist die Mautstelle in Ferleiten erreicht. Schon von weitem sieht man die roten Ampeln. Für Autos ist die Großglockner Hochalpenstraße in der Nacht gesperrt. Wer eine Startnummer trägt, hat die Genehmigung, hier zu passieren, und Richtung Pfandlscharte weiter zu laufen.
“Wie sieht’s aus mit dem Wetter?” frage ich. “Der Regen hätte eigentlich nicht kommen sollen.” Aja. Gut. Hilft eh nix. Es geht weiter. Ich hatte mir vor dem Start zum Ziel gesetzt, unter 20 Stunden zu bleiben. Da habe ich die Rechnung ohne meine Müdigkeit gemacht. Überhaupt erscheint es mir gerade als ausgemachter Blödsinn, sich auf 110 Kilometern darüber Gedanken zu machen, wie schnell man sein kann oder sollte. Wem muss ich hier etwas beweisen?
Etappe 2: Von der Mautstelle bis Kals
Mehr als 1.000 Höhenmeter hinauf zur Unteren Pfandlscharte. Keine besonderen Vorkommnisse. Springe aus Versehen in einen Bach. Das wären dann also in etwa 35 Kilometer in nassen Schuhen. Dann kommt das Schneefeld, das ich aus den Vorjahren kenne. 47 °C steil, eisig. Ich habe mir heuer meine Snowline Spikes eingepackt. Die anzuziehen dauert etwa 20 Sekunden. Ich gehe mit voller Sicherheit aufwärts und ernte dabei neidische Blicke meiner Mitstreiter. Ich habe 4 Kinder, zum einen fürchte ich mich nicht gerne, zum anderen will ich wieder gut daheim ankommen.
Beim Glocknerhaus bei Kilometer 38 haben wir bereits 3.000 Höhenmeter absolviert. Norbert wartet dort und feuert alle an. Es ist immer unglaublich schön, auf so einer langen ‚Reise‘ auf ein bekanntes Gesicht zu treffen. Innerhalb weniger Minuten schütte ich 2 Becher Suppe in mich hinein, dazu ein Brot, ein paar Soletti und im Anschluss noch ein Kaffee. Ob es eine kluge Kombination war? Hauptsache Energie.
Nach einer kurzen Bergab-Passage zu den Stauseen geht es ohnehin gleich in den nächsten Anstieg, da ist Zeit zum Verdauen. Vorher lichtet sich aber der Himmel, die Stirnlampe darf endlich im Rucksack verschwinden und der Blick zur Großglockner Pasterze ist unglaublich schön. Das sind neben der körperlichen Anstrengung und der Müdigkeit diese ganz besonderen Momente, die man nur an solchen Tagen erlebt.
Abgesehen vom Dreck auf meinen Kontaktlinsen (wie auch immer ich das angestellt habe), der es mir schwer macht, scharf zu sehen, geht es mir ganz gut. „Magst du überholen?“ rufe ich dem Läufer nach mir zu. „Nana, bist ein guter Peacemaker!“ Peace, Pace, macht ja keinen Unterschied, Hauptsache es läuft!
Es geht aufwärts Richtung Salmhütte, immer ein wenig auf und ab, die meisten Passagen kann ich laufen. Ich bin in dieser Phase des Rennens so richtig bei mir und dankbar dafür, dass ich so fit bin und mein Körper das alles mitmacht.
Weiter geht‘s hinauf zum höchsten Punkt auf über 2.800 Metern – die Pfortscharte.
Ich schiebe mich mit den Stöcken aufwärts. Der Ausblick da oben ist imposant, aber der Wind pfeift und ich rausche gleich wieder abwärts. Ein steiles Geröllfeld, das in Serpentinen passiert wird – ich überhole Läufer um Läufer. Es macht Spaß!
Nächste Labe bei der Lucknerhütte: Süßer Tee wird in die Flaschen gefüllt, dazu ein bisschen Brot und Salzgebäck. Weiter geht‘s. Die große ‚Basis‘ in Kals rückt immer näher.
Doch bevor es abwärts geht, wartet noch ein ganz gemeiner Anstieg über etwa 300 Höhenmeter auf einem Grashügel. Es ist unglaublich schwül, die Luft lässt erahnen, dass der Himmel heute nicht so strahlend blau bleiben wird, wie er es jetzt ist.
Dann geht es abwärts, endlos lang, bis endlich Kilometer 62 in Kals erreicht ist.
Jetzt beginnt das Rennen
11 Stunden und 15 Minuten, sagt meine Uhr. Eigentlich möchte ich gleich weiter, aber ich brauche dringend meinen Dropbag: Die nassen Socken und Schuhe müssen weg, sonst winken Blasen. Vom Speedcross 5 geht es in den Hoka Speedgoat 3. Das Wichtigste aber ist: Neue Kontaktlinsen einsetzen. Seit Stunden habe ich Probleme mit dem sehen. Zum Glück habe ich Ersatzlinsen dabei (übrigens ausnahmslos, seit mir beim Ironman vor ein paar Jahren kurz vor dem Start eine gerissen ist – nicht nachahmenswert!). Dann wird noch die Verpflegung nachgefüllt, ein Schluck Cola getrunken und es geht weiter.
Knapp elfeinhalb Stunden bin ich nun am Weg, so richtig super fühlt man sich nach der Zeit und Distanz nicht mehr, aber ich kann noch immer laufen.
Bis zum Kalser Tauernhaus zieht es sich, immer wieder schaue ich zum Himmel hinauf. Die Wolken werden dichter und ich bin ehrlich gespannt, ob sich das heute ausgehen wird. Kilometer 71. „Habts ihr Cola?“ Langsam macht sich nämlich mein Kreislauf bemerkbar. Bei schwülem Wetter habe ich immer ziemlich zu kämpfen und noch keine echte Lösung dafür gefunden. „Nein, aber alkoholfreies Weißbier.“ Gut, dann eben Bier. Ich genehmige mir einen großen Schluck – so gut kühl – und laufe weiter. Gleichzeitig spüre ich, dass es jetzt gerade ziemlich aus ist mit der Energie. Bei jeder Möglichkeit schütte ich mir Wasser über den Kopf, trinke, aber dieses Dorfertal Richtung Kalser Tauern scheint mir den Zahn zu ziehen.
Unrhythmisch geht es weiter, über große Felsen, kleine Felsen. Nur nicht stürzen. Wann habe ich die letzte Salztablette genommen? Habe ich genug Zucker intus? Irgendwie hilft im Moment gar nichts. Ich bin wohl nicht die Einzige, die nicht mehr ganz bei der Sache ist, denn plötzlich taucht ein Italiener neben mir aus dem Wasser auf. Scheint die Strecke verpasst zu haben und hat stattdessen den See gewählt. Muss man nicht nachmachen.
Noch 600 Höhenmeter bis zum Kalser Tauern, sagt meine Uhr. Die Bergrettung kommt mir entgegen. Der Himmel ist grau, ein Blick zurück nach Kals ist eher schwärzlich. Wieder meine Wetter-Frage. „Ah, bis zur Rudolfshütte sollte alles passen.“ Ich verlasse mich darauf und ziehe weiter. Je steiler es wird, desto mehr habe ich zu kämpfen. Aber ich bin nicht alleine. Jeder verfällt in einen komatösen Schritt, hier hinauf ist es unglaublich mühsam.
Meine Oase, die Rudolfshütte
Wie ich überhaupt hinauf komme, weiß ich nicht. Eben irgendwie. Der Kalser Tauern gibt den Blick zur Rudolfshütte frei. Ich bin im Eimer. Rudolfshütte, Rettungshütte. Rudolfshütte, Rettungshütte. „Komm schon, nicht nachlassen.“ An die weitere Strecke denke ich nicht. Erst einmal da hinüber laufen. Da gibt es bestimmt Suppe. Und Cola. Der Gedanke daran rettet mich. Rudolfshütte, Rettungshütte. Mein Mantra.
Ein Gegenanstieg folgt noch, hinauf zu meiner Oase. Gefühlt ist es der Mount Everest, in der Realität sind es ca. 50 Höhenmeter. Und dann: Cola. Wenn der Hersteller wüsste, wie viele Ultraläufer dieses Getränk schon gerettet hat….
Egal ob ich will oder nicht: Ich muss mich setzen. Pause. Obwohl ich eigentlich permanent esse, kracht mein Magen. Zuckerloch – ein ganz Tiefes. Hoffentlich folgt nicht genau jetzt ein Rennabbruch, während ich hier auf der Bank hocke und meine Suppe schlürfe. Dazu Brot und Salzgebäck. Im Anschluss: Schokolade – nicht zu wenig. Lebensgeister, wo seid ihr? Sie sind noch nicht da, aber ich muss zurück auf die Strecke. 15 Minuten später, bevor ich ich die warme Stube verlasse: „Wie sieht‘s aus mit dem Wetter?“ „Ihr habt Glück. Wir haben gerade mit der Bergrettung da oben am Törl telefoniert. Der Wind geht, die Gewitter ziehen darüber.“ Obwohl es in der Ferne immer wieder donnert, beruhigt mich das. Es ist auch einfach nur grau, sieht aber nicht bedrohlich aus. Zu dem Zeitpunkt ist es ca. halb 2 am Nachmittag. Ich bin also etwa 15,5 Stunden am Weg.
„Nur noch 30 Kilometer.“ Dass ich hier schon zweimal dabei war und ganz genau weiß, was auf mich zukommt, ist in dem Moment vielleicht nicht der allergrößte Vorteil. Erst geht es sehr technisch bergab. Mein Hirn hat richtig viel zu tun, um jeden Schritt richtig zu setzen.
Die letzte Bergetappe – Das Kapruner Törl
„If you can walk, you can run.“ Das sage ich mir immer wieder. In den flachen Passagen versuche ich trotz Müdigkeit immer zu laufen. Dann geht es auch schon aufwärts Richtung Kapruner Törl. 600 Höhenmeter. Es beginnt leicht zu regnen – eine Wohltat bei dem schwülen Wetter! Kühle Tropfen vom Himmel, dazu ein Gel aus meinem Rucksack. Ich bin absolut im Eimer und trotzdem zweifle ich keine Sekunde daran, hier ins Ziel zu kommen. Es gibt auch keine Warum Fragen. Ich will das einfach. Aus Ende.
Also gehen, gehen, gehen. Einen Schritt. Noch einen Schritt. „Ja bist du deppert, nimmt das gar kein Ende hier rauf….“ „Ist ja ein Klacks für dich, ist ja nicht das erste Mal, dass du hier rauf gehst. Vergiss nicht zu trinken.“ Selbstgespräche. Dazu gebe ich immer wieder Schnee unter die Kappe und in den Nacken. Mein Kreislauf fährt Achterbahn.
Als ich endlich auf 2.639 Metern am Kapruner Törl stehe, bin ich erleichtert.
Abwärts Richtung Mooserboden
Erst einmal vorsichtig bergab über Blockgestein, dann hinein ins Schneefeld. Ich hasse diese Passagen. Ehrlich, ich hasse sie. Klaus Gösweiner meinte am Vortag: „Wer das im Griff hat, kann richtig viel Zeit gut machen”.
Wer es nicht drauf hat, der lässt Berge liegen – so wie ich. Trotzdem: Positiv denken – ich versuche es zumindest. „Ist eh lustig, komm schon, einfach locker hinunterlaufen.“ Zack, ausgerutscht. „Ah, jetzt gehts besser, jetzt hast du es schon heraußen.“ Wieder, ausgerutscht. Und so weiter. Könnte dieses Schneefeld hören, was ich es nenne und wie ich fluche, wir würden unser ganzes Leben keine Freunde mehr…
Danach ist es zwar technisch, aber das stört mich nicht. Ich finde einen guten Laufschritt, bin bei den Bachquerungen konzentriert und lasse es laufen. Der Himmel über dem Mooserboden und Richtung Kaprun ist kohlschwarz, direkt über mir aber nur leicht grau – das nennt man Glück.
Ich wundere mich ein wenig, warum der nette Herr der Bergrettung meine Startnummer wissen will, schenke dem aber keine große Beachtung. Dass zu dem Zeitpunkt das Rennen bis zur Rudolfshütte bereits abgebrochen ist und ich eine der letzten Läuferinnen bin, die noch durchlaufen konnte – davon weiß ich gar nichts.
Laufen, gehen, einfach im Rhythmus bleiben. Langsam tauchen vor mir wieder Läufer auf, ich kann also nicht so langsam sein. Die letzte Verpflegung an den Hochgebirgsstauseen ist langsam in Sichtweite. Egal ob man dort isst oder trinkt – für die Psyche sind das immer ganz wichtige Punkte.
Mooserboden – Noch 16 Kilometer
Die letzten Kilometer bis hierher sind mir nicht leicht gefallen. Meine Zielzeit von 20 Stunden ist längst passé, und trotzdem folgt ein Blick auf meine Uhr: Knapp 19 Stunden bin ich am Weg. Was wäre wenn… ich jetzt so richtig Gas geben würde, so richtig. Dann könnte sich eine 20er Zeit ausgehen. Ein gewagtes Unterfangen, denn ganz flach sind die letzten 16 Kilometer nicht. Neben den Tunneln Richtung Kesselfallhaus ist es technisch, es geht auf und ab. Im normalen Zustand kein Problem, das schnell zu laufen, aber nach 95 Kilometern? In meinem Kopf ist es aber schon beschlossene Sache. Es gibt jetzt nur noch eines: Vollgas!
Ein Becher Cola, auf alles andere pfeife ich und dann laufe ich, als gäbe es kein morgen. Einer nach dem anderen wird überholt. Mein Kopf bestimmt über meine Beine. Ich bin völlig im Flow. Auf, ab, es läuft so richtig!
Noch 12 Kilometer, noch 10, noch 8 …. Beim Kesselfallhaus stehen noch Wasserkanister und Iso Getränk. Ich ignoriere es gekonnt. Ich habe keine Lust mehr, vernünftig zu sein. Ich will ins Ziel. So manch einer der 50-Kilometer-Distanz wandert Richtung Kaprun. „Komm schon, nur noch wenige Kilometer, das packst du locker!“ rufe ich einem nach dem anderen zu.
So sehr ich im Flow bin, mein Hirn funktioniert noch und weiß: 16 Kilometer ganz ohne Zucker – das könnte blöd ausgehen. 5 Kilometer vor Kaprun ist Schluss mit lustig. Zu essen habe ich noch genug im Rucksack, aber nicht im Traum bekomme ich jetzt noch einen Bissen hinunter.
So viele Leute sitzen hier gemütlich am Fluss neben dem Wanderweg, warum hält keiner eine Cola in der Hand?
Ich würde vor jedem einen Kniefall machen, nur um einen Schluck zu bekommen. Aber da ist nichts. Mir ist schlecht und ich bin besessen von dem Gedanken an Cola. Cola, Cola, Cola…. Da treffe ich auf einen Italiener. Mein (nur im Rennen) geliebtes Getränk hat er auch nicht, aber er klopft mir auf die Schulter: „Bravo, Bravo!“ Er geht, ich laufe und ich motiviere ihn, auch wieder zu laufen. Das ist fein, wir wechseln uns ab, er kann weder deutsch noch englisch, ich nicht italienisch. Als ich langsamer werde, schaut er mich fragend an. „Sick, so sick“ … „Ah, sick, bravo, bravo.“ Voll angekommen. Egal. Umfallen kann ich im Ziel. Ein Blick auf die Uhr. Das wird sich unter 21 Stunden ausgehen. Die letzten Kilometer sind nicht bravourös, sie machen keinen Spaß, wie man es vielleicht in so einer Geschichte gerne lesen möchte. Weil meine Familie nicht mit dabei ist – weil unsere 4 Kids einfach zu klein sind und noch zu viel Blödsinn machen – schreibe ich noch eine WhatsApp. So habe ich das Gefühl, dass sie zumindest ein bisschen mit dabei sind.
Als ich Richtung Ziel einbiege, bin ich einfach nur froh, dass es vorbei ist. 20 Stunden, 53 Minuten. Der Moderator ruft: 4. Platz, ja ist das nicht der Wahnsinn? Ist es das? Es ist jedenfalls Blech. Aber was soll’s.
Das Bedürfnis, die Hände nach oben zu reißen, habe ich eigentlich nie. Ich überschreite die Ziellinie und bin einfach dankbar, dass ich es geschafft habe.
Vor allem aber bin ich eines: Am Ende. Am meisten freue ich mich jetzt einfach, dass nach dem Zieleinlauf ein Sessel auf mich wartet. Over and out.
Medaille umhängen, etwas trinken und auf einen Engel hoffen, der mich ins Hotel bringt. Die 2 Kilometer schaffe ich nämlich nicht mehr. Er kommt wirklich, in Form von Andi Schweninger, seines Zeichens ATRA Verbandsarzt und für die Mitgliederverwaltung zuständig, und im echten Leben Arzt. Bringt mich ins Hotel und rettet damit mein Leben. Dort: Irgendwie in die Dusche, Zeug auf den Boden schmeißen, ins Bett. Das nennt man wohl Knock-Out. Mir fallen die Augen zu.
Nach 3 Teilnahmen habe ich mit dem Großglockner Ultratrail erst einmal abgeschlossen. Mein Ziel, unter 20 Stunden zu bleiben, war sehr hoch gesteckt. Für manch einen mag es sinnlos erscheinen, sich auf 110 Kilometern überhaupt ein Zeitziel zu setzen. Mir war es wichtig. Es hat mich über Monate motiviert und immer wieder von alltäglichen Dingen abgelenkt. Ich hätte es auch drauf gehabt, aber meine Zeit, dass etwas so richtig aufgeht, scheint noch nicht gekommen zu sein. Dafür rauben uns die Kinder nicht nur unsere Nerven, sondern einfach zu viel Schlaf.
Ich bin nicht stolz auf meinen 4. Platz oder meine Zeit. Ich bin stolz darauf, dass ich jeden einzelnen Tag an mir arbeite, für solche Ziele und alle, die noch kommen. Ich war noch nie ein ‘One-Hit-Wonder’ und habe mir bisher immer alles erarbeitet. So wird es auch mit diesem Rennen sein. Eines Tages sind die Kinder groß genug und ich laufe mit ihnen ins Ziel – unter 20 Stunden. Da sind wir wieder bei der Metapher. Nie aufgeben. Immer weitermachen.
Mehr als ein Symbol
Zur Siegerehrung schaffe ich es nur mit etwa 5 Weckern und einer Packung Manner Waffeln, die zufällig in Bett-Reichweite ist.
Für Platz 4 bekomme ich einen wunderschönen, handgefertigten Anhänger. Ich habe schon einen von Platz 5 im Jahr 2017. Vielleicht gibt es einmal jemanden, dem ich diesen zweiten Anhänger schenke – der ihn braucht. Ich trage ihn nämlich immer an Tagen, an denen ich das Gefühl habe, besondere Stärke zu brauchen. Er erinnert mich daran, was mit der nötigen Konsequenz, Mut und Leidenschaft möglich ist. Nämlich alles.
Nachtrag: Das Rennen wurde um kurz vor 15 Uhr für alle unterbrochen, die noch irgendwo vor der Rudolfshütte waren. Von über 450 Startern auf der Ultradistanz waren nur knapp über 50 schnell genug, um dem Gewitter davon zu laufen. Von 51 Frauen sind gar nur 6 ins Ziel gekommen. Das macht mich nicht stolz. Ich denke an knapp 400 geplatzte Träume, denn jeder der bei so einem Rennen an den Start geht, hat hart dafür trainiert und hat es sich verdient, diese Finisher Medaille zu bekommen. Aber gegen das Wetter ist man machtlos. Am gleichen Tag wurde beim Südtirol Ultra Skyrace eine Teilnehmerin vom Blitz getroffen und tödlich verletzt. Das sollte uns alle ein wenig auf den Boden der Realität holen und vor allem die Entscheidung des Veranstalters, ein Rennen abzubrechen, nicht zu kritisieren.